Kirche und Euthanasie

„… löblich und heilsam, zu töten“

Die Kirchen erwecken gerne den Eindruck, sie hätten dem Naziregime Widerstand geleistet. Die historische Wahrheit ist jedoch eine andere. An vielen Stellen lassen sich darüber hinaus gedankliche Verflechtungen zwischen Nazismus und kirchlichen Verlautbarungen nachweisen, so etwa bei der gedanklichen Vorbereitung des Holocausts durch kirchliche Antisemiten wie Martin Luther. Aber auch das Euthanasie-Ermordungs-Programm der Nazis wäre ohne die gedankliche „Vorarbeit“ und praktische „Mitarbeit“ von Kirchenvertretern nicht in dieser Form durchführbar gewesen. Dieter Potzel, Ex-Pfarrer der lutherischen Kirche und Herausgeber der Zeitschrift „Der Theologe“ (www.theologe.de), hat einige Tatsachen zusammengestellt:

Parallel zur Stimmungsmache gegen die jüdischen Mitbürger bereitet die Kirche auch die spätere Vernichtung der Behinderten vor. So erscheint 1927 z. B. das Buch Gesetzliche Unfruchtbarmachung Geisteskranker, ein römisch-katholisches „Standardwerk“, so zumindest die Beurteilung der Vereinigung katholischer Seelsorger an deutschen Heil- und Pflegeanstalten. Das Werk stammt von dem Moraltheologen Dr. Joseph Mayer vom Institut für Caritaswissenschaften in Freiburg (Imprimatur = kirchliche Druckerlaubnis vom 15.2.1927). Darin warnt Dr. Mayer u. a. vor der Sexualität Behinderter und schreibt: „Erblich belastete Geisteskranke befinden sich in ihrem Triebleben auf der Stufe unvernünftiger Tiere“ (PS: Über die „unvernünftigen Tiere“ heißt es in der Bibel in 2. Petrus 2, 12, dass sie „von Natur dazu geboren sind, dass sie gefangen und geschlachtet werden“). Und an anderer Stelle schreibt Dr. Mayer in seinem römisch-katholischen Standardwerk: „Wenn darum ein Mensch der ganzen Gemeinschaft gefährlich ist und sie durch irgendein Vergehen zu verderben droht, dann ist es löblich und heilsam, ihn zu töten, damit das Gemeinwohl gerettet wird.“ 13 Jahre später, im Jahr 1940, setzen die Nationalsozialisten dann diese kirchliche Forderung in die Tat um. Zwar spricht sich der Vatikan (anders als die evangelische Kirche) im Jahr 1930 offiziell gegen die Zwangssterilisation Behinderter aus, doch kooperieren die katholischen Einrichtungen in Deutschland später wie die evangelischen bei der Sterilisation und nachfolgenden Ermordung mit den staatlichen Stellen und gestehen dem Staat hier z. B. „Notwehr“ zu.

Auf protestantischer Seite denkt man meist noch brutaler. Im Mai 1931 treffen sich in Treysa in Hessen (in der Anstalt „Hephata“) die Anstaltsleiter der evangelischen Inneren Mission in Deutschland zu einer „Evangelischen Fachkonferenz für Eugenik“. Zwei Jahre vor der Machtübernahme durch die NSDAP besprechen die führenden Vertreter der evangelischen Diakonie bereits die Sterilisierung und spätereVernichtung lebensunwerten Lebens„. Während man sich auf die Forderung nach Sterilisierung in der so genannten Treysaer Erklärung einigt (sie entspreche z. B. nach Überzeugung des bekannten Pastors Friedrich von Bodelschwingh angeblich dem „Willen Jesu“), wird die Ermordung kontrovers diskutiert. Pastor Bodelschwingh erklärt z. B.: „Ich würde den Mut haben, in Gehorsam gegenüber Gott, die Eliminierung an anderen Leibern zu vollziehen.“ Und der Leiter des Referates „Gesundheitsfürsorge“ beim Centralausschuss der Inneren Mission, Dr. Hans Harmsen, tadelt diejenigen Anstaltsleiter, die hier noch zögern und hält ihnen vor: „Dem Staat geben wir das Recht, Menschenleben zu vernichten, Verbrecher und im Kriege. Weshalb verwehren wir ihm das Recht zur Vernichtung der lästigsten Existenzen?(Ernst Klee/Gunnar Petrich, Film „Alles Kranke ist Last“)
Angehörige haben ihre Kinder oder andere Familienangehörigen in der Regel in gutem Glauben kirchlichen Einrichtungen anvertraut und wussten nicht, wie dort vielfach über diese Menschen gedacht wurde.

14.7.1933 – Das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses befiehlt die Zwangssterilisation Behinderter. Dazu gehören auch Blinde, Taube, Stumme, Epileptiker, Alkoholiker, Körperbehinderte, seelisch Kranke und politische Gegner, die man wegen ihrer abweichenden Einstellungen als „Schwachsinnige“ einstuft. Die Nationalsozialisten erfüllen damit eine Forderung der evangelischen Kirche, welche die Anstaltsleiter der Inneren Mission in ihrer Treysaer Erklärung 1931 erhoben haben. Sieben Jahre später, ab 1940, werden diese Menschen vergast, vergiftet, erschlagen oder man lässt sie verhungern.
Karl Todt, Direktor der evangelischen Heilerziehungs- und Pflegeanstalt der Inneren Mission in Scheuern an der Lahn, ist wie andere Diakonie-Leiter von dem neuen Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses begeistert und schrieb kurze Zeit später. „Wie freudig begrüßten wir die rassenpflegerischen Maßnahmen unseres Führers, die der Auftakt sind, die Übel von der Wurzel an zu bekämpfen. So stehen wir zum Dienste bereit, Handlanger zu sein am Bau des Reiches Gottes und am Bau des neuen, des Dritten Reiches.“ (zit. nach Ernst Klee/Gunnar Petrich, Film „Alles Kranke ist Last“)
Im Jahr 1941 dienen die evangelischen Einrichtungen in Scheuern dann als Zwischenstation für Behinderte auf deren Weg in das Vernichtungslager Meseritz-Obrawalde in Pommern. Von Scheuern aus werden die der Kirche anvertrauten Menschen wissentlich zur Vernichtung (Vergasung, Vergiftung, Erschlagung, Verhungern lassen) weitergeleitet. Und in der Landesheil- und Pflegeanstalt in Bernburg an der Saale werden die Behinderten 1940 und 1941 „vergast“ (75 Behinderte wurden dazu jeweils nackt in die 3 x 4 m große Gaskammer gezwängt), während im selben Gebäude-Komplex die Diakonissen des evangelischen Oberlin-Hauses Babelsberg offenbar ohne Protest ihren „Dienst“ tun.

5.4.1937 – Der leitende Arzt der evangelischen Neuendettelsauer Fürsorgeheime, der Lutheraner Dr. Rudolph Boekh, über die Diskussion zur Vernichtung angeblich lebensunwerten Lebens: „Diese Verzerrung des menschlichen Antlitzesseidem Schöpfer zurückzugeben“. Und: „Die Entscheidung, ob ein Mensch vernichtet werden soll, steht allein dem Mann zu, der unter Berufung auf den Schöpfer die Gewalt in seiner Hand hat Das kann und darf allein der Führer„. (zit. nach Klee, Die SA Jesu Christi, S. 180)
Dr. Boekh war 10 Jahre lang Oberarzt der evangelischen Diakonieeinrichtungen in Bethel und kam auf Empfehlung des dortigen Pastors Friedrich von Bodelschwingh im Jahr 1936 nach Neuendettelsau. Während in dem fränkischen Ort die knapp 2000 der Kirche anvertrauten Behinderten im Frühjahr 1937 noch vielfach fröhlich und unbeschwert ihren Alltag leben, hat der lutherische ärztliche Leiter der kirchlichen Einrichtung schon ihr Todesurteil gefällt.

Ab Juli 1940 – Selektion und Verlegung der Behinderten aus den Einrichtungen der bayerischen evangelischen Diakonie – in staatliche Einrichtungen und von dort in Vergasungsanstalten, v. a. in Hartheim bei Linz in Österreich. Aus keinem Fürsorgeheim Deutschlands werden mehr Behinderte zur Ermordung abgeholt wie aus den evangelischen Heimen in Neuendettelsau in Bayern. Anfangs sind viele Behinderte noch „in froher Erwartung eines Ausflugs“. Als schließlich Berichte über die Ermordungen durchsickern, reagieren die Opfer unterschiedlich: „Manche sollen sich still in ihr Schicksal ergeben haben, anderen flehen um ihr Leben, wehren sich verzweifelt, weinen, schreien und klammern sich in ihrer Todesangst an Ordensschwester oder Pfleger, reißen ihnen fast die Kleider vom Leibe“ (Ernst Klee/Gunnar Petrich, Film „Alles Kranke ist Last“). Die Aktionen dauern bis Anfang 1941. Auch Landesbischof Hans Meiser wird darüber informiert und schweigt. Nach dem Krieg rechtfertigen sich Verantwortliche, „seelenlose Monster“ seien von ihrem Leiden „erlöst“ worden. (Klee/Petrich, a.a.O.)

19.7. / August 1940 – Landesbischof Theophil Wurm wendet sich in einem Brief an Reichsinnenminister Frick halbherzig bis unwillig gegen die Ermordung Behinderter in der württembergischen Vergasungsanstalt Grafeneck. Trotz Judenverfolgung, Krieg und anderem staatlichen Terror bescheinigt Wurm dem Führer und der Partei zunächst, bis jetzt auf angeblich christlichem Boden zu stehen. Dieser würde mit der „Ausrottung“ der Behinderten aber verlassen, auch wenn Wurm dafür Verständnis signalisiert. Der Bischof rechtfertigt seinen „Protest“ damit, dass er es „in erster Linie deshalb“ tue, „weil die Angehörigen der betroffenen Volksgenossen [der Opfer] von der Leitung einer Kirche einen solchen Schritt erwarten … Dixi et salvavi animam meam“ [= „Ich habe es gesagt und meine Seele ist gerettet“] (Ernst Klee/Gunnar Petrich, Film „Alles Kranke ist Last“). Kein Wunder, dass dieser Pflicht-„Protest“ nichts bewirkt.
In Bethel/Westfalen werden die Behinderten allerdings nicht ermordet, obwohl auch der dortige Leiter Friedrich von Bodelschwingh kaum kräftiger protestiert hat.*
Bodelschwingh im August 1940: „Sicher wäre es das Beste, wenn die ganze Maßnahme sofort und vollständig eingestellt würde. Kann man sich dazu nicht entschließen, so muss ein geordnetes Verfahren festgelegt werden.“** Bei einer Konferenz in Treysa im Jahr 1931 hatte sich Bodelschwingh sogar vorstellen können, Behinderte eigenhändig zu „eliminieren“. Und schließlich setzen die Nationalsozialisten jetzt nur in die Tat um, was viele Kirchenführer bereits auf dieser Konferenz gefordert hatten. So hatte auch der von Bodelschwingh stark geförderte ehemalige Betheler Oberarzt und Psychiater Dr. Rudolph Boekh aus Neuendettelsau bereits im Jahr 1937 die Ermordungen gefordert und sich dabei hinter denFührerAdolf Hitler gestellt bzw. hinter ihm versteckt.

3.8.1941 – Der katholische Bischof Clemens August von Galen prangert als einziger deutscher Bischof in einer Predigt die Vernichtung Behinderter an. Auf der anderen Seite treibt er die Deutschen in den Krieg (siehe dazu Der Theologe Nr. 27 über den „Kreuzzugsprediger“ von Galen). Aus Rücksicht auf den Protest von Galens finden die Vernichtungsaktionen (von weiteren ca. 30.000 Behinderten) seither mehr im Geheimen statt. So lässt man z. B. in Irsee im Allgäu, wo die Nonnen von der „Kongregation des Heiligen Vinzenz von Paul“ einen großen Teil des Personals stellen, behinderte Kinder nicht mehr vergasen, sondern auf staatliche Anordnung hin verhungern (was nach ca. drei Monaten zum Tod führen sollte) oder vergiften (Ernst Klee/Gunnar Petrich, Film „Alles Kranke ist Last“). Als Töterin wird in Irsee vor allem die evangelische Krankenschwester Pauline Kneissler eingesetzt, die vor dem Krieg im Kirchenchor sang und evangelischen Kindergottesdienst hielt und später schon in den Vergasungsanstalten Grafeneck auf der Schwäbischen Alb und Hadamar bei Limburg zuvor Tausende von Menschen mit der Giftspritze tötete. Sie teilt dem Klinikseelsorger jeweils mit, welchem Behinderten er die katholischen Sterbesakramente geben soll. Nachdem der Priester jeweils seinen „Dienst“ getan hat, bringt sie den Behinderten um.

Die evangelisch-lutherische Massenmörderin Pauline Kneissler wurde nach dem Krieg zu vier Jahren Haft verurteilt und beschwerte sich über dieses Urteil. So rechtfertigt sich die Krankenschwester 1947 mit den Worten: „Mein Leben war Hingabe und Aufopferung, … nie war ich hart zu Menschen … Dafür muss ich heute leiden und leiden.“
Alle Verbrecher im staatlichen Auftrag hatten dabei die Rückendeckung der EKD (Evangelische Kirche in Deutschland), die in einem Beschwerdebrief an die US-Militärregierung vom 26.4.1946 z. B. schrieb: „Dabei waren Handlungen und Gesinnungen, die heute verurteilt werden, vom damaligen Gesetzgeber als rechtmäßig und gut eingeschätzt. Hierdurch wird das Rechtsempfinden erschüttert und von den Angeklagten eine Rechtseinsicht verlangt, die man nicht erwarten kann.“ (zit. nach Amtsblatt der Evang.-Luth. Kirche in Bayern)

Anmerkungen:
* In den evangelischen Bodelschwinghschen Anstalten in Bethel holte man zwar die Behinderten nicht zur Ermordung ab. Doch es geschah dort vielfach anderes Unrecht. So mussten von 1942-1944 z. B. eine unbekannte Zahl von Kriegsgefangenen und ca. 150 – 180 Zwangsarbeiter arbeiten – Menschen die von der deutschen Armee in Osteuropa eingefangen und nach Deutschland verschleppt wurden.“ Bethel war von Anfang an voll in das Zwangsarbeiter-System integriert(Prof. Matthias Benad, Leiter der Forschungsstelle für Diakonie und Sozialgeschichte an der Kirchlichen Hochschule Bethel, zit. nach Ev. Sonntagsblatt für Bayern Nr. 39, 24.9.2000, S. 7). Und über Bethel soll nach dem Krieg teilweise auch die Flucht hochrangiger Nationalsozialisten ins Ausland organisiert worden sein.

** Manche Kirchen- und Diakonieführer unterschieden zwischen unterschiedlichen Graden der Behinderung und versuchten, das Leben leichter Behinderter zu retten, indem sie die Ermordung schwerer Behinderter unterstützten.